Erstveröffentlichung

Unbekannter Künstler
Diebold Schilling d. Ä.

071.46-Schilling-240Ein in der Größe bescheidenes, dafür eindrucksvoll strenges Portrait eines Gelehrten gehört schon seit Langem zum Bestand der Kunsthalle, Karlsruhe (ca. 1480. Öl Eiche 29,2 x 22,5 cm). Hier positioniert sich ein etwa 40jähriger Mann vor weitem wolkenlos-blauen Himmel mit einigem Selbstbewußtsein. In Schulterhöhe ist links am Horizont hügeliges Mittelgebirge zu erkennen, rechts ein Stück alpiner Höhen. Wenn diese Szenerie nicht wahllos ist, weist sie auf das Unterland der Schweiz als Heimat der dargestellten Person hin. Der das Gebirge überwölbende Himmel ist ähnlich bei Andrea del Castagno, Perugino, Pinturrichio oder Pollaiuolo zu finden.

Doch man weiß über den Künstlern eigentlich nichts und kann deshalb nur vermuten, daß er sich in Italien umgesehen hat wie Burgkmair oder Dürer. Oder aber: das Gemälde stammt von einem oberitalienischen Künstler. Die Überlegung mag irritieren, ist aber nicht aus der Luft gegriffen, denn unten wird ein Aufenthalt des Dargestellten in Italien nachgewiesen. Zudem existieren Portraits von Bartolomeo Veneto, Cariani und anderen italienischen Künstlern, die Deutsche porträtiert haben. Bisher hatte man jedoch als Urheber des Gemäldes den Meister des Marienlebens vorgesehen, was wenig überzeugt.

Vom Museum wird der Dargestellte als Gelehrter bezeichnet; es fragt sich nur, welcher Fachrichtung. Wie die Humanisten zu der Zeit trägt der Mann ein dunkles Gewand. Es ist jedoch nicht die übliche Schaube, denn die ist tiefschwarz. Hier handelt es sich um ein sehr tiefes Rot. Am Ausschnitt und als Manschetten trägt er sogar Pelzbesatz. Das deutet unweigerlich auf Vornehmheit. Also ist die Person in höheren Kreisen zu suchen. Er scheint aber kein Adliger zu sein, denn es fehlt eine goldene Kette am Hals.

Im Bild tritt, wenn auch geringfügig, Zinnober im Ausschnitt der Garderobe auf. Das ist ein kleiner Hinweis, besagt es doch, daß das Rot eines Wamses auf eine Amtsperson deutet. Diese kann auch bürgerlicher Herkunft sein, weil dafür die fachliche Qualifikation ausschlaggebend war.

Der Kopf ist nicht mit einem Humanistenbarett bedeckt, sondern trägt einen teils schwarzen, teils dunkelroten Kopfputz, wie er selten in Erscheinung tritt. Vergleicht man mit dem oberrheinischen Portrait (s. Beitrag Remigius Faesch), kommt man der Lösung näher: Faesch stieg auf zum Rat der Stadt Basel und kleidete sich entsprechend; bei dieser Person könnte eine vergleichbare Position in Betracht kommen.

Einzig auffälliges Accessoire des Dargestellten im Gemälde ist ein Buch, in das er seinen Zeigefinger legt. Es scheint ein Ledereinband zu sein. Aber weil Bücher in der Frühzeit des Buchdrucks nach Gutenberg noch Einzelanfertigungen waren, kann man aus dem Exemplar nicht auf einen bestimmten Titel rückschließen; beschriftete Schutzumschläge waren noch nicht üblich. In der Regel galt aber, daß diese Geste bedeutet, daß der Dargestellte mit einer Buchpublikation an die Öffentlichkeit getreten ist.

Nun gab es damals eine Fülle von Personen, die als Autoren ihr Publikum suchten. Aus den bisherigen Ermittlungen ergeben sich für den gesuchten Autor einige Voraussetzungen:

etwa vierzigjähriger Mann
kein Adliger
Herkunft aus der Nordschweiz
Amtsperson

Der Gesuchte scheint Diebold Schilling der Ältere (1438/45 ─ 1483) zu sein, zumal er in »der eindruckvollsten chronistischen Tradition« (Max Wehrli S. 289) stand. Er konnte dabei sogar die hohe Zeit der Burgunderkriege aus eigener Anschauung lebendig machen. »1460 trat er in den Dienst der Kanzlei der Stadt Bern, wurde Bürger der Stadt und 1468 Mitglied des Grossen Rates. 1485 trat er offenbar aus gesundheitlichen Gründen von seinem Amt als Gerichtsschreiber zurück« (wikipedia).

Bern und sein kantonales Umland hatten sich zu einer territorialen Macht entwickelt, die mit ihren Söldnern finanzierenden Fürsten Militäreinsätze nicht nur in Oberitalien ermöglichte. »Diebold Schilling, Schreiber und Ratsmitglied, führt die Justingersche Chronik weiter… Die Schlußfassung wurde vom Rat amtlich zensuriert. Berühmt wurde Schillings Chronik ebenso wie die Luzerner Chronik seines Neffen Diebold Schilling des Jüngeren durch ihre kulturgeschichtlich überaus reichhaltige 071.46-schilling-NEBDiebold Schilling d. Ä. in seinem Studio.
Spiezer Chronik
Illustrierung« (Wehrli S. 829).


Diese Buchillustration aus der Zeit zeigt ihn in seinem Studio, wo er von einer offiziellen Delegation des Rats der Stadt Bern besucht wird. Sie präsentiert den geschätzten Autor sogar in rotem (eigentlich fürstlichen) Gewand und unterstreicht mit dem Berner Wappen die offizielle Funktion des Diebold Schilling, denn als Amtsträger arbeitete er offiziell an der Chronik. Es könnte sein, daß der Bucheinband aus rotem Leder besteht, könnte eine Anspielung auf die Auftragsarbeit sein. Er trägt dabei eine fezartige Kopfbedeckung, welche ─ stark vereinfacht ─ der im Portrait ähnelt. Ein vergleichbares Portrait en face von Diebold Schilling war bisher nicht bekannt. Insofern ist die Identifizierung des Gelehrten als Diebold Schilling ein kulturgeschichtlicher Zugewinn.

© Christoph Wilhelmi, Stuttgart 2024

Literatur
Ernst Buchner: Das Deutsche Bildnis der Spätgotik und der frühen Dürerzeit. Berlin 1953
Max Wehrli: Geschichte der Deutschen Literatur vom frühen Mittelalter bis zum Ende des 16. Jahrhunderts. Stuttgart 1980
Georg von Wyß: Schilling, Diebold. In: Allgemeine Deutsche Biographie 34. Berlin 1892

Bildnachweise
kunsthalle-karlsruhe.de/kunstwerke/Meister-des-Marienlebens/Bildnis-eines-
Gelehrten/B214CD7341339FB14608AFBA91C9991E/ (10.3.2024)
wikipedia.org/wiki/Diebold_Schilling_der_Ältere (14.3.2024)
Burgerbibliothek Bern, Mss. h.h. 1 16